Warum Männer nicht nebeneinander pinkeln wollen. und andere Rätsel der räumlichen Psychologie
Daten zum Buch | |
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Deutscher Titel: | Warum Männer nicht nebeneinander pinkeln wollen. und andere Rätsel der räumlichen Psychologie |
Autor(en): | Walter Schmidt |
Herausgeber: | |
Erscheinungsort: | |
Verlag: | rororo |
Serie: | |
Erscheinungsjahr: | 2013 |
Seitenanzahl: | 256 Seiten |
Originaltitel: | ' |
Originalsprache: | deutsch |
ISBN-10: | 3499629968 |
ISBN-13/
EAN-Code: |
978-3499629969 |
Schlagwörter: | Kritik der Vernetzung, Technikritik |
Sachgebiete: | Kritische Theorie, IT-Kritik |
Rezensionen | |
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Das Buch Walter Schmidts ist eine populärwissenschaftliche Abhandlung über alltagspsychologische Beobachtungen und Erkenntnisse. Es folgt dabei der Grundthese, dass viele der Verhaltensweisen auch des modernen Menschen letztlich auf unser evolutionsbiologisches Erbe zurückzuführen sei, das einigen Grundregeln folge. Dazu gehöre die Vorsorge, der Wunsch, seine Gene weiterzugeben, sich Konkurrenz vom Leib zu halten, mit den eigenen Kräften zu haushalten, die grundsätzliche Risikominimierung und der Schutz der eigenen Ressourcen. (13)
Diese Grundthese macht Schmidt an vielen Beispielen aus dem Alltag der Menschen deutlich. So sieht Schmidt etwa in dem Wunsch, sich von anderen abzugrenzen, nicht zuletzt das Thema der Gesundheitsvorsorge und das Thema des Ressourcenschutzes am Werk. In Bussen etwa würden genau aus diesen Gründen erst alle Reihen besetzt, bevor sich jemand neben eine andere Person setzen würde. Die Menschen verteidigten so ihre "territoriale Souveränität" (35), wenngleich es hier auch kulturelle Unterschiede geben würde. Dabei macht Schmidt auch klar, dass eine Verletzung der jeweiligen Zone eines Menschen nicht selten zu Konflikten führen würde. Schmidt unterscheidet dabei folgende Zonne, in die jeweils einzudringen nur bestimmten Personen gestattet sei. Zunächst existiere die Intimzone (unter 50 cm), dann die Privatzone (von 50cm bis 1,5 m) und schließlich die Sozialzone (1,5 m bis 3,5 m). Daüber liege die Öffentlichkeitszone (über 3,5 m). Wer sich einem Menschen also bis auf 1 m nähert, benötigt dafür einen sozialen oder gar privaten Grund, damit die Annäherung nicht als unerwünscht empfunden wird. Diese Grenzen gelten überdies nach Ansicht Schmidts nur für den Kontakt im zivilisierten Umfeld, einen Wanderer im Wald grüße man bereits deutlich früher, um seine friedlichen Absichten anzuzeigen und einer Person im Dunkeln der Straße meide man auch bereits deutlich früher. (46)
Ein ähnlich evolutionsbiologisches Erbe sieht Schmidt z.B. auch in der Bevorzugung von erhöhten Positionen oder von Positionen mit einem weiten, freien Blick, da dadurch Gefahren für Leib und Leben schneller erkannt werden konnten. Noch heute sind daher Häuser am Meer oder auf Hügeln beliebter als Häuser ohne diesen Blick. Dieses Grundmuster sieht Schmidt auch bei der in manchen Kulturkreisen vorherrschenden Sitte am Werk, dass der Mann von der Frau gehe. Der Mann nehme dabei auf Grund seiner größeren physischen Stärke die "Aufklärerposition" ein. (71) Und für den Herdentrieb (101) führt Schmidt eine ähnliche Begründung an. Der Mensch folge der Herde, weil dort keine Gefahr drohe, wo bereits so viele Menschen vor einem selbst sicher entlanggegangen seien.
Aber der Mensch ist aufgrund seines Erbes neben dem Schutz auch auf Ressourcenschonung bedacht. So sieht Schmidt etwa die Beliebtheit von Navigationssystem darin begründet, dass diese die knappen Ressourcen des Gehirns außerordentlich schonen würden. (104) Darauf sei der Mensch seit Jahrtausenden genauso trainiert, wie auf die möglichst schnelle und zahlreiche Aufnahme von Nahrungsmitteln (140 ff), was genauso wie die Benutzung von Navigationssystem in unerer heutigen Zeit zweifelsohne zu Problemen führen könne, da der Mensch so träge und denkfaul werden könne, ein Reaktionsschema, das ihm in der freien Wildbahn aber lange Zeit einen Selektionsvorteil vor anderen, vielleicht mehr Ressourcen verbrauchenden Spezien verschafft habe.
Interessant sind auch die Gedanken Schmidts darüber, warum sich kranke Menschen in ihr Bett zurückziehen bzw. gar "verkriechen" würden. Schmidt glaubt, dass sich ein kranker Mensch in früheren Zeiten so vor Freßfeinden versteckt habe, eine Erfahrung, auf die sich der moderne Mensch immer noch stützen würde. (115) Ähnlich sei auch der Hang des Menschen, in der Gruppe Schutz zu suchen, ein alter Schutzreflex. (116)
Schmidt glaubt zudem, dass der Mensch auf Aktivität gepolt sei. Ohne Aktivität wäre der Mensch nicht in der Lage, sein eingeimpftes Programm, Gene weiterzugeben, in die Wirklichkeit umzusetzen. Daher würde der Mensch bei Inaktivität schnell unzufrieden. (209) Das würde z.B. selbst schon in Warteschlangen mit nur kurzer Wartezeit deutlich werden.
Schmidt glaubt überdies, dass der Wunsch nach Eigentum aus unseren evolutionsbiologischen Wurzeln herrühren würde. So wolle der Mensch an einmal erworbenem Eigentum festhalten, weil im Eigentum Ressourcen gespeichert seien. Daher falle es vielen Menschen nach Schmidt schwerer, Dinge wegzugeben oder wegzuschmeißen als diese zu erwerben und zu horten. Dieses Phänomen ist als der Endowment-Effekt bekannt (222).
Nicht ganz aus dem evolutionsbiologischen Erbe erklärbar, aber ebenso interessant sind die Gedanken und Beschreibungen Schmidts zum Gehen. (228) Schmidt beschreibt nicht zu letzt anhand einiger bekannter Persönlichkeiten, wie das Denken und das Gehen sich einander befruchten würden. So war etwa der Schriftsteller Robert Walser ein fanatischer Geher. (231)
Bewertung: Viele der Beobachtungen Schmidts sind richtig und wichtig für das Verständnis des modernen Menschen. Dennoch geht seine Interpretation zu weit. Der Mensch ist kein intentionsloses Produkt seiner evolutionsbiologischen Wurzeln und kann sich frei entscheiden, seinen Wurzeln zu folgen oder auch nicht. Zudem gibt es deutlich mehr Antriebsgründe eines Menschen als die von Schmidt genannten.
Dennoch sind wir ohne das Nachdenken über diese uns beherrschenden Wurzeln zweifelsohne willenlose Gefangene der Impulse aus der Vergangenheit. Das zu wissen und zu deuten, ist der erste Weg zur Freiheit des Menschen.
Denis Diderot 13:55, 17. Nov 2013 (CET)