1918 - Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte
Daten zum Buch | |
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Deutscher Titel: | 1918 - Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte |
Autor(en): | Laura Spinney |
Herausgeber: | |
Erscheinungsort: | München |
Verlag: | Hanser |
Serie: | |
Erscheinungsjahr: | 2018 |
Seitenanzahl: | 384 Seiten |
Originaltitel: | - |
Originalsprache: | deutsch |
ISBN-10: | 3446258485 |
ISBN-13/
EAN-Code: |
978-3446258488 |
Schlagwörter: | Spanische Grippe, Influenza, Fieber, I. WK |
Sachgebiete: | Sachbuch |
Rezensionen | |
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Die Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney hat 2018 ausführlich den Verlauf der Spanischen Grippe sowie die kurz- und langfristigen weltweiten Auswirkungen der Pandemie von 1918 beschrieben. Dabei geht sie ausführlich auf die drei Wellen der Influenza, aber auch auf die weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen ein, die durch diese bisher größte Influenza-Pandemie entstanden sind. Die Autorin versucht hierbei auch Begründungen dafür zu liefern, warum die Spanische Grippe trotz ihres so enormen Einflusses weder von der kollektiven Erinnerung noch von der professionellen Geschichtswissenschaft kaum Beachtung gefunden hat und das, obwohl der Spanischen Grippe mit 50 bis 100 Millionen Toten fast oder genau so viele Tote wie den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zusammen zugeschrieben werden. Von der damaligen Weltbevölkerung von 1,5 Milliarden Menschen seien, so Spinney, alleine 500 Millionen Menschen infiziert gewesen und je nach Berechnung also 2,5 bis 5% der Infizierten gestorben. (12) Überhaupt glaubt Spinney, dass Infektionskrankheiten und ihre Auswirkungen auf die Menschheitsgeschichte bisher viel zu wenig Beachtung gefunden haben. Sie verweist etwa darauf, dass der sogenannten Julianischen Beulenpest im 6. Jhdt. n. Chr. so viele damalige Bauern zum Opfer gefallen seien (nämlich 25 Millionen), dass es in folgenden Generationen zu einer natürlichen Wiederaufforstung und dadurch zu einer Abkühlung der Erde gekommen sei. Spinney weist in diesem Zug auch auf die Vernichtung der mesoamerikanischen Urkulturen hin, die durch Infektionskrankheiten der sesshaften "Eroberer" ausgelöst worden seien, da die noch weitgehend als Jäger lebenden Kulturen den Viren der alten Welt wenig entgegenzusetzen hatten. Auch hier verweist Spinney auf die These, dass die kleine Eiszeit des 16. Jahrhunderts durch die natürliche Wiederaufforstung in Folge des Massensterbens in Mesoamerika verursacht worden sein könnte. (33f) Auch wenn sich der erste Grippevirus vermutlich im Zuge der Seßhaftwerdung des Menschen vor 12.000 Jahren entwickelte, dauerte es bis zu den ersten größeren Grippeepidemien bis zum 16. Jahrhundert. Für 1580 ist eine Grippeepidemie in Asien und Europa belegt. Die Hochphase der Grippe-Epidemien fällt jedoch mit dem Aufblühen der Städte im 19. Jahrhundert zusammen, was durch das enge Zusammenleben in den Städten auch verständlich erscheint. Spinney berichtet von einer Grippewelle von 1830, die der Spanischen Grippe ebenbürtig gewesen sein soll und von der sogenannten Russischen Grippe von 1889, der 1 Millionen Menschen zum Opfer fielen, bis es dann 1918 zur schweren sogenannten Spanischen Grippe kam, die wir vielleicht als erste Pandemie mit weltweiten Auswirkungen bezeichnen können. Die Autorin hält in diesem Zusammenhang darüber hinaus fest, dass auch bereits im 18. und im 19. Jahrhundert mehr Menschen durch Krankheiten als durch Kriege gestorben seien und somit unser Blick auf Seuchen und Krankheiten der Menschheitsgeschichte verstärkt werden sollte (35).
Detailliert geht die Autorin auf den Verlauf der drei Grippewellen ein, deren erste bereits im März 1918 zunächst in den USA registriert worden sei und dann ab April auch in den Schützengräben des I. WKs wütete. Die zweite Welle ab September 1918 sei schließlich die schlimmste gewesen, nachdem sich die Grippe erst in ganz Europa und schließlich durch die heimkehrenden Soldaten und Jubelfeiern in deren Heimat auch weltweit, einschließlich in Australien, das seine Quarantänemaßnahmen zu früh lockerte, ausgebreitet hatte (57). Die dritte und offiziell letzte Welle breitete sich schließlich im Januar 1919 in New York und zu den Friedensverhandlungen in Paris aus. Wann man vom endgültigen Ende der Pandemie sprechen kann, ist allerdings nicht gesichert, häufig wird der Mai 1919 genannt, wie die Autorin zu berichten weiß, teilweise gab es aber auch noch Nachwehen der Pandemie im Jahr 1919/1920, die der Spanischen Grippe zugeschrieben werden. Max Weber z.B. soll ihr erlegen sein. (58) Eindrücklich schildert Spinney dabei auch die teils drastischen Auswirkungen der Erkrankung bei manchen Patienten, deren Zähne und Haare ausfielen und die, nachdem die Lunge betroffen war, regelrecht in ihren eigenen Körperflüssigkeiten ertranken. (61) Genauso wie das Ende der Pandemie Unsicherheiten aufwirft, genauso bleibt der Beginn der Pandemie im Unklaren. Es gibt zum wirklichen Ursprung der Spanischen Grippe drei Theorien. 1) Zum einen könnte die Grippe bereits 1917 im chinesischen Shanxi entstanden sein, jedenfalls gibt es hier gegen Ende des Jahres 1917 gehäufte Berichte über eine Lungenpest mit ähnlichen Symptomen. (184) 2) Dann gibt es die Theorie, die Grippe könnte schon 1916 im britischen Heerlager in Frankreich, genauer gesagt in Étaples entstanden sein, wo insgesamt 1 Mio. Männer zum Teil mit Senfgasverletzungen in den Lungen in einem gigantischen Krankenlager dahinsiechten. (190) 3) Und dann gibt es die am weitesten verbreitete Theorie, dass die Grippe aus Kansas in den USA kam und zusammen mit Soldaten, die zur Front geschickt worden sind, nach Europa gelangte. (192) Sicher ist freilich, dass die Grippe nicht aus Spanien kam. Der Grund, weshalb die Spanische Grippe heute spanisch genannt wird, ist alleine auf den Grund zurückzuführen, dass es im damals neutralen Spanien keine Zensur gab und die Berichte über die Grippe in anderen, kriegführenden Ländern weitgehend unterdrückt worden sind. (78) Bezeichnend ist jedoch, dass zeitgenössisch die Grippe in fast jedem Land eine andere Bezeichnung hatte, je nachdem, wo man den "Feind" stehen sah. In Polen wurde die Grippe die "bolschewistische Grippe" genannt, im Senegal sprach man von der brasilianischen Grippe und in Brasilien wiederum von der deutschen, in Spanien selbst von der Neapolitanischen Grippe usw. (78)
Interessant sind auch die unmittelbaren Auswirkungen des Virus, die Spinney beschreibt. Denn das Virus mag demokratisch jeden Menschen treffen können, die 50 bis 100 Millionen Tote jedoch waren häufig die Armen, Kranken, Unterernährten und beengt Lebenden (239). Das traf in Europa auf viele Menschen zu, deren Länder sich gerade im Krieg befanden, aber etwa in New York oder Brasilien, wo der Krieg weit weg war, traf es vor allem die sozial Benachteiligten. Das Virus traf jedoch nicht nur die Lebenden, auch die Auswirkungen auf die Ungeborenen im Mutterleib' waren teils erheblich. Spinney berichtet von Untersuchungen die zeigen, dass Ungeborene, deren Mütter 1918 vom Virus betroffen waren, später eine geringere Körpergröße aufwiesen und auch dass Organe, inklusive des Gehirns ggf. kleiner ausgebildet sein könnte (254f). Bei Überlebenden des Virus seien zudem neurologische Probleme und die Zunahme von Krankheiten wie Schizophrenie beobachtet worden (257). Ggf. soll sogar die sogenannte Europäische Schlafkrankheit 1917-25 eine Folge der Grippe gewesen sein (257). Nicht nur durch die Grippe, sondern auch durch die Auswirkungen des Kriegsgeschehens im I. WK waren darüber hinaus Melancholie und Depressionen ab 1918 in Europa und auch weltweit weit verbreitet (255). Bei den Überlebenden selbst gab es erhebliche Verlust- und Schuldgefühle (267), die u.a. ein Grund dafür gewesen sein mögen, warum über die Grippe in den Jahrzehnten danach kaum geredet worden ist. Die Pandemie verstärkte schlussendlich sowohl die Anhänger als auch die Kritiker der modernen Medizin, wie etwa in Klimts Gemälde "Medizin" paradigmatisch zum Ausdruck kommt. (276) Auf der einen Seite hatte die sich gerade entwickelnde moderne Medizin mit ihrer Keimtheorie, also dem Verständnis von Mikroorganismen als Auslöser von Krankheiten, dem Virus nichts entgegenzusetzen, zumal bisher nur Bakterien und nicht die viel kleineren Viren bekannt waren, auf der anderen Seite machte die Pandemie den Staaten auch klar, dass für solche Masseninfektionen die Infrastruktur in den Städten und erst Recht auf dem Land fehlte. In der Folge entstanden Volksgesundheitsbewegungen, Impfkampagnen und schließlich die WHO als Organisation zur Bekämpfung von Pandemien (286ff).
Spinney fragt sich darüber hinaus, ob die Grippe auch kriegsentscheidend gewesen sein könnte. Die meisten Historiker seien hier zurückhaltend, jedoch glaubte zumindest der deutsche General Ludendorf, die Grippe habe ihm den Sieg geklaut (289ff). Ganz ausschließen mag das Spinney nach einer Betrachtung des Kriegsverlaufs bis zum Frühjahr 1918 nicht. Spinney berichtet auch, dass es die Grippe gewesen sein mag, die den amerikanischen Präsidenten Wilson bei den Reparationsverhandlungen nach Ende des I. WKs derart schwächte, dass es zu den unglücklichen Reparationen gegenüber Deutschland kam und die USA nicht Teil des Völkerbundes werden ließ. (294) Damit könnte die Spanische Grippe sogar indirekt Auswirkungen auf den II. WK gehabt haben. (294)
Interessant - auch gerade vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie - scheinen die Details zu sein, die die Autorin von der 1918er-Pandemie zu berichten weiß. So sieht sie z.B. religiöse Rituale als besondere Verstärker von Ausbruchsgeschehen (242) und auch 1918 kam es bereits zu Impfrevolten und zur Kritik an Einschränkungen der Bürgerrechte, z.B. in Brasilien (68), so wie diese auch 2020 in Folge der Pandemiebekämpfungen verstärkt auftrat. Auch den sogenannten Geisterfußball vor leeren Rängen kannte man bereits in der Pandemie von 1918, wie die Autorin berichtet (70) und Berichte über gespenstisch leere Straßen etwa in Brasilien (66) oder Rückstau von Särgen in New York (132) lassen an die Covid-19-Pandemie 2020 denken. Auch manche böse Omen (323), die sich parallel zugetragen haben sollen, ließen die Zeitgenossen genauso wie heute einige esoterisch Angehauchte stutzen, wie Spinney zu berichten weiß. So gab es etwa zeitgleich mit dem Ausbruch große Heuschreckenplagen und Dürre in Südafrika (261), aber eben auch welkende Rosen oder Eulen an falschen Plätzen (323). Unter dem Eindruck des Krieges gab es darüber hinaus auch Stimmen, die in dem Grippeausbruch eine biologische Kriegsführung (92) vermuteten, auch hier eine Analogie zu 2019/2020. Das Verbot zum Läuten von Totenglocken (102), um die Bevölkerung nicht so beunruhigen, scheint schließlich ein bekanntes Vorgehen mancher Autoritäten damals wie heute zu sein, die Bevölkerung lieber im Unklaren zu lassen anstatt sie umfassend zu informieren. Interessant ist auch eine Studie von 2007 (1), die Shippey zitiert, welche Praktiken gegen die Pandemie 1918 in US-Städten wirkten. Dieser Studie zufolge kamen jene Städte am besten durch die Krise, die a) ein Verbot von Massenveranstaltungen erließen und b) eine Vorschrift, eine Maske zu tragen (241). Außerdem vermerkt die Autorin hellseherisch, dass wir vermutlich in den nächsten 100 Jahren vier große Pandemien haben werden (322), wobei die größte Gefahr durch einen komplett neuen Virus entstehen könnte (325). Einer der offensichtlichsten Unterschiede zur Covid-19-Pandemie 2019 ist, dass 1918 vor allem auch die 20-40-Jährigen betroffen waren, während von Covid-19 eher die Älteren betroffen sind. Spinney erklärt die überproportionale Betroffenheit dieser Kohorte neben dem Fakt, dass diese Kohorte natürlich vor allem ausgemergelt in den Schützengräben saß, damit, dass diese Kohorte nach der großen russischen Pandemiewelle geboren worden sei und ihr damit die Immunisierung gefehlt habe.
Abschließend versucht Laura Spinney noch der Frage nachzugehen, weshalb die Spanische Grippe bisher so wenig Aufmerksamkeit erzeugt hatte. Sie zeigt, dass es Kriege zwar schneller und unmittelbarer ins kollektive Gedächtnis schaffen als Seuchen, Epidemien oder Pandemien, große Krankheiten kämen dafür eher langsamer und nachhaltiger ins kollektive Gedächtnis. Direkt nach den großen Pestwellen im 14. Jahrhundert sprach kaum Jemand über die Pest, während sie heute den Eingang ins kollektive Erinnern längst gefunden hat. Vielleicht, so vermutet die Autorin, schafft es die Spanische Grippe ja jetzt, 100 Jahre später, auch so langsam ins kollektive Gedächtnis, während die Erinnerung an die große Kriege vielleicht kleiner werden. (338)
Kritik
Laura Spinney hat eine sehr große Anzahl an Fakten über die Spanische Grippe zusammengetragen und auch teils wenig bekannte und überraschende Erkenntnisse zutage gefördert, zudem liest sich das Buch spannend und es ist der Autorin gebührend zu danken, dass sie die bisher wenig ins kollektive Bewusstsein überführten Fakten ans Tageslicht für eine breite Öffentlichkeit gebracht hat. Gerade auch vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie 2019/2020 sei dieses Buch vor allem auch den Kritikern und Verschwörungserzählern herzlich zur Lektüre empfohlen. An der ein oder anderen Stelle wäre es gut gewesen, noch mehr Belege anzuführen und manche Berichte etwa über New York, Brasilien und Südafrika sind ein wenig anekdotenhaft geraten, auch wenn der weltweite Blick auf das Geschehen gerade eine Stärke des Buches ist. Eine Stärke, von der sich mancher Historiker eine Scheibe abschneiden könnte, deren Blick fast immer noch nur auf Europa und Amerika gerichtet ist, gerade wenn es um die 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts geht. Als Deutscher liest man zudem die Spekulationen über einen anderen möglichen Kriegsausgang und die Reparationen des II. WK mit gemischten Gefühlen.
1) The effect of public health measures on the 1918 influenza pandemic in U.S. cities: https://www.pnas.org/content/104/18/7588#:~:text=Louis%2C%20Milwaukee%2C%20and%20Kansas%20City,of%20mortality%20during%20the%20pandemic.