Stasi-Kinder. Aufwachsen im Überwachungsstaat

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Daten zum Buch
Deutscher Titel: Stasi-Kinder. Aufwachsen im Überwachungsstaat
Autor(en): Ruth Hoffmann
Herausgeber:
Erscheinungsort: München
Verlag: Propyläen Verlag
Serie:
Erscheinungsjahr: 2012
Seitenanzahl: 320 Seiten
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Originalsprache: deutsch
ISBN-10: 3549074107
ISBN-13/

EAN-Code:

978-3549074107
Schlagwörter: DDR.Geschichte, Staatssicherheit, Stasi
Sachgebiete: Geschichtswissenschaft
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Die Journalistin Ruth Hoffmann wollte eigentlich eine Reportage über die "Kinder der Frankfurter Allee" in den 70er und 80er-Jahren schreiben, merkte dann aber, dass in dem Thema mehr steckt als eine Reportage. Das Buch webt die Geschichten einzelner Kinder aus Familien der Staatssicherheit inneinander, lässt sie sozusagen wie in der oral history zu Wort kommen, und gibt auf diese Weise einen sehr guten und tiefen Einblick in das Alltagsleben der Familien der Mitarbeiter der Staatssicherheit. Die Familien der "Hauptamtlichen" und vor allem ihre Kinder, so merkt man schnell, waren genauso oder vielleicht noch intensiver von der Kontrolle und Überwachung des Ministeriums für Staatssicherheit betroffen wie der Rest der Bevölkerung.

Denn die Kinder der Mitarbeiter des Inlands- und Auslandsgeheimdienst der DDR mussten nicht nur gehorchen, sondern ihr Verhalten wurde von dem Ministerium genauso überwacht und kontrolliert wie das der Mitarbeiter selbst. Der Kontakt zu Oppositionellen war genauso verboten wie Westkontakt unerwünscht, eine freie Partnerwahl konnten weder die Hauptamtlichen noch die Söhne oder Töchter der Mitarbeiter vollziehen. Familien gehörten in Gänze in den Einflussbereich der Staatssicherheit und ein Übertreten von Kontaktverboten musste ausführlichst gegenüber den Vorgesetzten begründet werden, was selbstverständlich zu Druck innerhalb der Familie führte. Einige Beispiele von Ruth Hoffmann zeigen, dass Familien an diesem Druck zerbrechen konnten. So wurden renitente Söhne oder Töchter bei Nichteinhaltung der Vorschriften nicht selten des Hauses verwiesen oder waren mit Berlinverbot und Studienverbot belegt.

Zugleich rekrutierte sich die Staatssicherheit zu einem großen Teil aus den Kindern der Mitarbeiter selbst und bereits in der 6. bzw. 7. Klasse wurde versucht, die Kinder für den Dienst in der Stasi zu gewinnen. Systematisch wurde damit begonnen, den Nachwuchs des eigenen Kaders auf Linie zu bringen.

Teilweise würde man das Buch als spannend wie eine Agentenstory bezeichnen, wenn nicht immer auch tragische Schicksale dahinterstehen würden. So beschreibt die Autorin etwa die Konsequenzen, die die Flucht des Hauptamtlichen Werner Stillers nicht nur auf die eigene Familie hatte, die von der DDR in Sippenhaftung genommen und von Stiller letztlich alleine zurückgelassen wurde, sondern auch auf die Familien von "Spionen" im Westen, die durch seinen Verrat aufgedeckt wurden. So floh z.B. Armin Raufeisen (108 ff.) in Reaktion auf die Flucht Stillers mitsamt seiner ahnungslosen Familie aus dem Westen in den Osten, wo die westlich aufgewachsenen Kinder und auch seine Frau jedoch nie heimisch wurden. Man lebte mitsamt seiner Westwohnung aus Hannover mitten in der DDR an der Leipziger Straße mit Blick auf den Osten. Die Flucht geriet schlussendlich zu einer einzigen Katastrophe. Der erwachsene Sohn wurde wieder ausgewiesen, der Rest der Familie aber nach einem Fluchtversuch mehrere Jahre inhaftiert. Armin Raufeisen verstarb in Haft, seine Frau kam erst nach Jahren mit der Wiedervereinigugn wieder in Freiheit.

Auch die Geschichte des Spions Karl-Heinz Glocke ist nicht minder tragisch. Auch er wurde durch die Flucht Stillers enttarnt und für die Familie zerbrach ihre alte Welt. Der Vater, eben noch Mitglied der CDU, kam in Haft und spricht noch heute davon, dass der Verrat Stillers zu sühnen sei.

Kritik

Man merkt dem Buch seine journalistische Herrkunft an, es ist kein geschichtswissenschaftlichen Fachwerk. Dennoch schafft es das Buch, über den Ansatz einer Art oral history einen fundierten Einblick in das Seelenleben und den Alltag von DDR-Familien zu bringen, deren Arbeitgeber die Staatssicherheit war. Der Einblick ist so tief und gut, wie ihn ein Fachbuch niemals hätte leisten können. Dennoch fehlt dem Buch an vielen Stellen genau auch die wissenschaftliche Distanz. So beschäftigt sich das Buch z.B. nur mit denjenigen Kindern, die an dem System gescheitert sind. Es gab aber mindestens eben so viele, wenn nicht sogar zahlenmäßig mehr Kinder bzw. Jugendliche, die mit Feuer und Flamme und aus tiefster Überzeugung in die Fußstapfen der Eltern bei der Staatsicherheit getreten sind. Nach Ruths Schilderung gewinnt man den Eindruck, dass es eigentlich kaum überzeugte Täter, sondern eigentlich nur Opfer gegeben habe. Aber selbst in einem System wie der DDR konnte man sich entscheiden, ob man für die Staatssicherheit arbeiten wollte oder nicht. Die Kinder der Hauptamtlichen waren sicher einem besonderen emotionalen Druck ausgesetzt, aber am Ende des Tages frei in ihren Entscheidungen. Auch ein Blick über den Tellerrand hinaus hätte sicher gut getan. Denn den Druck, dass Kinder in die Fußstapfen der Eltern treten, gab und gibt es in fast allen Gesellschaften. Auch in der Bundesrepublik wurde abweichendes Verhalten geächtet und Kinder, die die Normen nicht erfüllten, aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Das Besondere an der DDR war jedoch, dass eine staatliche Stelle darüber wachte, was aus den Kindern des eigenen Kaders wurde. Ein Vergleich etwa zu Angehörigen der Westgeheimdienste wäre wünschenswert. Denn auch einem Geheimdienst in der BRD konnte es sicher nicht egal sein, welche Kontakte die Kinder der Angehörigen hatten.

Und noch einen Wunsch an den Verlag: Bitte spendieren sie dem Buch in Nachauflagen ein Personenregister!

Denis Diderot 14:13, 16. Dez 2012 (CET)