Die kulturelle Überlieferung der Menschheit

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Die kulturelle Überlieferung der Menschheit

Vom Rosettastein zur Waste Isolation Pilot Plant

Welche Strategien zur kulturellen Überlieferung hat der Mensch in seiner Geschichte bereits betrieben und warum? Der vorliegende Text beschäftigt sich mit einigen Strategien der Menschheit, ihre kulturelle Welt der Nachwelt zu erhalten.

Die genetische Programmierung des Menschen zur kulturellen Überlieferung

Erst dem modernen Menschen scheint es ein anthropologisches Bedürfnis und genetisches Programm zu sein, seine Umwelt zu reflektieren und gegenständlich zu verarbeiten. Zwar ist schon aus der mittleren Altsteinzeit vor ca. 300.000 Jahren das Bestatten von Toten mit Kunstgegenständen wie Perlen bekannt, aber eine erste reflektierende, mithin kulturelle Tätigkeit des Menschen lässt sich erst mit dem Entstehen von Höhlenmalereien vor ca. 40.000 Jahren nachweisen. Denn die Höhlenmalereien etwa in der Höhle von Lascaux stellen hauptsächlich jene Tiere dar, die von den Menschen gejagt wurden, oder jene, deren Beute die Menschen selbst waren. Tiere, die aus diesem Schema fallen, findet man in den Malereien kaum. Die meisten Ur- und Frühzeithistoriker gehen daher heute davon aus, dass in den Felsbildern des frühen Homo sapiens die Reflexion seiner Rolle als Jäger zu erkennen ist.[1]

Die konsequente Weiterentwicklung der Felsbilder, also der bildlichen Darstellung der eigenen Situation, war die Entwicklung einer Schrift, die den Vorgang der bildlichen Reflexion weiter abstrahierte. Erste Schriftsysteme sind seit 7.000 Jahren (Donauzivilisation) oder je nach Interpretation seit 5.000 Jahren (Mesopotamien) bezeugt (Geschichte der Schrift[2]). Aus ihnen hat sich im Laufe der Zeit über die Einführung der Vokalzeichen im antiken Griechenland ein alphabetische Lautschrift entwickelt, die das gesamte abendländische Denken dazu befähigt hat, abstraktes Denken schriftlich zu fixieren.

Eine nicht minder erfolgreiche Strategie zur Tradierung menschlicher Vorstellungswelten ist die Architektur. Gemeint sind damit nicht jene modernen Bürokonstruktionen aus Glas und Stahl, die es ohne Pflege vielleicht auf 50 oder 100 Jahre Haltbarkeit bringen, sondern jene Bauwerke, die für die Ewigkeit geschaffen wurden. Nicht von ungefähr sind die ägyptischen Pyramiden das einzige Bauwerk, das von den antiken sieben Weltwundern bis heute überdauert hat. Zwar nagt der Zahn der Zeit auch an diesen Bauwerken, da die arabischen Eroberer den Marmor abtrugen, um daraus Kairo zu bauen, aber seit 4.500 Jahren zeugen diese Bauwerke von der Blüte der altägyptischen Kultur.[3]

Ein weiteres Grundbedürfnis des Menschen scheint es darüber hinaus zu sein, sein eigenes Leben zu überdauern. Mit der kulturellen Methode der Überlieferung steht der Menschheit ein äußerst mächtiges Werkzeug zur Hand, das die Methode der genetischen Vererbung, die durch Recodierung versucht, prinzipiell „unendlich“ zu sein, imitiert. „Wer schreibt, der bleibt“ sagt ein Sprichwort nicht ohne Grund. Bücher haben nach wie vor eine längere Haltbarkeit als die eigenen Kinder und Enkel, auch wenn der „Trick“ der genetischen Vererbung ja gerade in der permanenten Veränderung und Regenerierung besteht. Bücher sind jedenfalls ein deutlich besseres Langzeitmedium als DVDs oder das Internet. Denn wer kann schon dafür garantieren, dass es das Internet noch in 200 Jahren geben wird?[4] Der Brockhaus soll angeblich auf Papier gedruckt worden sein, das 400 Jahre hält, aber wie wird wohl die Wikipedia in 400 Jahren aussehen?

Die immer wieder geforderte Digitalisierung von Kulturgut nach Bränden in Bibliotheken (jüngst etwa in der Anna-Amalia-Bibliothek) oder dem Verlust von Archiven (jüngst etwa dem Kölner Stadtarchiv) ist jedenfalls keine vernünftige Strategie der Langzeitarchivierung, wenn man mit einer langen Zeit viele hundert Jahre meint. Ein einziger Zivilisationsbruch, ein „Mittelalter“ der kulturellen Überlieferung reicht vermutlich aus, um jede Strategie der digitalen Langzeitarchivierung dauerhaft zu unterbrechen.

Aus dem Grundbedürfnis der eigenen Reflexion und der genetischen Programmierung zum Überdauern hat der Mensch Strategien entwickelt, kulturellen Code für die nachfolgenden Generationen wirklich dauerhaft zu erhalten. Hier sind sowohl große, aus Stein geschaffene Denkmäler wie die ägyptischen Pyramiden zu nennen als auch in Stein, Ton, Erz oder Bronze gehauene oder modellierte Überlieferungen. Dabei hat sich die religiöse Botschaft als besonders effektive Form der kulturellen Überlieferung erwiesen, denn noch härter als das Material, auf das Moses die 10 Gebote schrieb, war die soziale Organisation der katholischen Kirche, die das Römische Reich, die Reiche des Mittelalters und etliche moderne Diktaturen locker überdauerte. Und wir kennen sie immer noch, die 10 Gebote, auch wenn der Stein, der sie einmal trug, längst vergessen ist.[5]

Spracherhalt: das Projekt Rosetta

Auch heute gibt es noch etliche Versuche, die kulturelle Überlieferung für die nachfolgenden Generationen zu erhalten. Ein Projekt, das sich nicht nur namentlich an den berühmten Stein von Rosette anlehnt, ist das Rosetta-Projekt[6] der Long Now Foundation. In den Stein von Rosette ist in drei Sprachen ein Priesterdekret gemeißelt, mit dessen Hilfe die altägyptischen Hieroglyphen übersetzt werden konnten. Das Rosetta-Projekt möchte nun 1.500 Sprachen der heutigen Welt auf einer langlebigen Nickelplatte erhalten, auf der mehr als 13.000 Seiten in diesen Sprachen untergebracht sind. Mithilfe der Rosettakugel können zukünftige Gesellschaften die vielleicht einmal unverständlichen Sprachen und sprachlichen Hinterlassenschaften unserer heutigen Welt entziffern.

Saatgut-Tresor: Svalbard Global Seed Vault

Ein ähnliches Projekt ist das Svalbard Global Seed Vault[7]. Hier hat der „Global Crop Diversity Trust“ damit begonnen, einen „Saatgut-Tresor“ unserer heutigen Nutzpflanzenwelt im ewigen Eis aufzubauen, in dem rund 4,5 Millionen Saatgutmuster 120 Meter tief im Fels von Spitzbergen eingelagert werden. Der Mensch scheint sehr ernsthaft daran zu glauben, dass sein Handeln die natürliche Diversität nachhaltig schädigen wird, noch bevor er selbst von der Weltbühne abtritt. Denn dass sich die Natur in einer Welt ohne uns ihren Platz recht rasch wieder zurückerobern würde, ist offensichtlich, auch wenn wir davon ausgehen können, dass vor allem die Änderung der Atmosphäre und des Klimas die langfristigsten Hinterlassenschaften unserer Epoche sein werden (à Eine Welt ohne uns[8]).

Der Saatgut-Tresor klingt jedenfalls wie eine Umsetzung der jüngsten Empfehlungen James Lovelocks, der empfohlen hatte, alles Kernwissen der Menschheit in langlebigen Büchern an den Polen zu sichern, da die Klimaerwärmung nicht mehr aufhaltbar sei und man so wenigstens noch die kulturellen Überlieferungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse der heutigen Menschheit festhalten könne.[9]

Barbarastollen: Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland

Dagegen nimmt sich der Barbarastollen als „Zentraler Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland“ zur Lagerung von fotografisch archivierten Dokumenten mit hoher national- oder kulturhistorischer Bedeutung in Oberried bei Freiburg im Breisgau, der 1975 in 400 Metern Tiefe in einem ehemaligen Silberbergwerk eingerichtet wurde, noch klein aus, obwohl der Bunker mit 825 Millionen Aufnahmen in 1380 Fässern der größte seiner Art in ganz Europa sein soll. Allerdings ist diese Art von Kulturbunker mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes etwas aus der Mode gekommen, denn vergleichbare Einrichtungen in Österreich und Holland wurden bereits wieder geschlossen.[10] Am Einsturz des Kölner Stadtarchivs sieht man indes, wie wichtig diese Art des Kulturgutschutzes auch heute noch ist. Aus dem Kölner Stadtarchiv liegen ca. 1.1 Mio. Dokumente mikroverfilmt auch im Barbarastollen.[11]

Botschaften ins All: Pioneer- und Voyager-Sonde

Es liegt nahe, dass Botschaften unserer heutigen Zivilisation, die ins All befördert werden, eine besonders lange Haltbarkeit aufweisen und zudem weit entfernte, fremde Zivilisationen erreichen könnten. Daher hat die Raumfahrt sich auch immer schon mit dem Thema beschäftigt, wie man sich fremden Zivilisationen bei einem möglichen Kontakt grundsätzlich verständlich machen könnte. Die Raumsonden der USA aus den 70er-Jahren enthielten von Jon Lomberg entworfene Plaketten, auf denen die Grundkonstitution des menschlichen Lebens auf der Erde zusammengefasst wurde. Die Plakette der Raumsonden Pioneer 10 und 11 zeigt u. a. die Position unserer Sonne anhand von 14 Pulsaren, die Lage der Planeten unseres Sonnensystems sowie stilisiert einen Mann und eine Frau.[12] Die Raumsonden Voyager 1 und Voyager 2 enthalten gar eine goldene Schallplatte, die 500 Millionen Jahre halten soll und auf der 115 Bilder und Audiodaten, Grußworte in 54 Sprachen, analog gespeichert sind.[13] Die Plattenhülle greift die Themen der Pioneer-Raumsonden auf, enthält aber auch noch eine Anleitung, wie man die Schall- und Bilderplatte abspielen kann.

Radio-Wellen: Arecibo-Botschaft

Auch mithilfe von Radiowellen hat man bereits mehrfach versucht, die menschliche Zivilisation für die Zukunft und für fremde Gesellschaften oder gar „Welten“ verständlich zu machen. Die Arecibo-Botschaft[14] wurde 1974 von Frank Drake über das Arecibo-Observatorium aus ins All versandt. Die binär codierte Botschaft vermittelt wie die Raumsonden Informationen über die Beschaffenheit der Erde (u. a. chemische Elemente und Nukleotide), die Biologie des Menschen (DNA), unsere Zivilisation und die Herkunft des Signals, das Arecibo-Observatorium. Das Signal war 1 Millionen mal so stark wie regulär ausgesendete Rundfunksignale und auf einen Sternenhaufen im Sternbild Herkules ausgerichtet. Im nachhinein gab es jedoch Empörung über die Ausstrahlung des Signals, weil man allen Ernstes eine mögliche Gefährdung durch fremde Zivilisationen erwartete. Die Gemeinschaft der Radioastronomen hatte sich damals darüber verständigt, keine gesonderten und gebündelten Radiomitteilungen mehr ins All auszusenden. So enthielt etwa auch die 1997 gestartet Cassini-Huygens-Mission zur Erforschung der Saturnmonde keine Botschaften, obwohl im Vorfeld darüber diskutiert worden war.

Dokumentarfilm für Außerirdische: CosmicConnexion

Jüngeren Datums ist der französische Dokumentarfilm CosmicConnexion[15] aus dem Jahr 2006, der auf ARTE in Französisch und Deutsch ausgestrahlt und zugleich an ein 45 Lichtjahre entferntes Doppelsternsystem im Sternbild Kepheus gesendet wurde, wo ein erdähnlicher Planet vermutet wird. Der Film enthielt u.a. Beiträge zum menschlichen Körper, zur Sozialstruktur der Menschheit, zu Liebe und Sexualität, zu Krieg, zur technischen Entwicklung der Menschheit und über die Erde. Mittlerweile scheint wohl die Angst vor Außerirdischen etwas zurückgegangen sein.

Dokumentation unserer strahlenden Zukunft

Wenn Uran-235 eine Halbwertszeit von 704 Millionen Jahren hat, wie können wir dann nachfolgenden Generationen und Zivilisationen die Gefahr unseres Atommülls deutlich machen? Für das Waste Isolation Pilot Plant (WIPP), ein atomares Endlager für schwach radioaktive Abfälle, hat man sich ausführliche Gedanken dazu gemacht. So sollen die Warnhinweise auf sieben Meter hohen, 20 Tonnen schweren Granitblöcken eingemeißelt werden. Zudem sollen 23 Zentimeter große Scheiben aus Ton und Aluminiumoxid, die man auf dem gesamten Gelände eingraben will, die Warnhinweise wiederholen. Außerdem soll das gesamte Atommülllager mit einem 10 Meter hohen Erdwall umgeben werden. Magnete und Radarreflektoren sollen auf die Gefahr zusätzlich hinweisen, so dass kommende Archäologen nicht weiter graben mögen. Sobald diese Anlage realisiert worden ist, hat sie gute Chancen als längstes kulturelles Erbe der Menschheit auf der Erde selbst zu überleben.[16]

Aber vielleicht wird es strahlenden Müll als Problem für nachfolgende Generationen in einer Millionen Jahre ja auch gar nicht geben. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in 1 Millionen Jahre keine Menschen mehr gibt ist nicht weniger gering als die Möglichkeit, dass es eine Spezie geben wird, der Strahlung von Uran keinen Schaden zufügt. Um an dieser Stelle nicht missverstanden zu werden: Ich halte Atomenergie gerade wegen des strahlenden Abfalls für eine absolut minderwertige und schädliche Technologie, aber vor dem Hintergrund von Millionen von Jahren sollte sich der Mensch, der gerade einmal 50.000 Jahre in Europa lebt auch nicht für so wichtig halten.

Quellen:

[1] http://lexikon.meyers.de/wissen/Felsbilder+(Sachartikel)

[2] http://bookpedia.de/buecher/Geschichte_der_Schrift

[3] http://bookpedia.de/buecher/Das_kulturelle_Ged%C3%A4chtnis._Schrift%2C_Erinnerung_und_politische_Identit%C3%A4t_in_fr%C3%BChen_Hochkulturen

[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Langzeitarchivierung

[5] http://lexikon.meyers.de/wissen/Zehn+Gebote+%28Sachartikel%29

[6] http://www.rosettaproject.org/

[7] http://www.seedvault.no/

[8] http://bookpedia.de/buecher/Die_Welt_ohne_uns._Reise_%C3%BCber_eine_unbev%C3%B6lkerte_Erde

[9] http://www.heise.de/tp/r4/artikel/21/21809/1.html

[10] http://unesdoc.unesco.org/images/0015/001585/158587EB.pdf

[11] http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,611647,00.html

[12] http://www.science-at-home.de/platte.php

[13] http://voyager.jpl.nasa.gov/spacecraft/goldenrec.html

[14] http://www.signale.de/arecibo/gesamt.html

[15] http://www.rp-online.de/public/article/gesellschaft/medien/363723/Die-erste-Fernsehsendung-fuer-Ausserirdische.html

[16] http://bookpedia.de/buecher/Die_Welt_ohne_uns._Reise_%C3%BCber_eine_unbev%C3%B6lkerte_Erde

Dieser Artikel wurde bereits 2009 in leicht geänderter Form auf Google Knol veröffentlicht.

Autor: Denis Diderot 22:25, 17. Nov 2010 (CET)