Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek
Daten zum Buch | |
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Deutscher Titel: | Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek |
Autor(en): | Markus Krajewski |
Herausgeber: | |
Erscheinungsort: | Berlin |
Verlag: | Kulturverlag Kadmos |
Serie: | |
Erscheinungsjahr: | 2017 |
Seitenanzahl: | 272 Seiten |
Originaltitel: | - |
Originalsprache: | deutsch |
ISBN-10: | 3865992145 |
ISBN-13/
EAN-Code: |
978-3865992147 |
Schlagwörter: | Karteikarten,Zettel, Bibliothek |
Sachgebiete: | Wissenschaft |
Rezensionen | |
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Markus Krajewski, Professor für Mediengeschichte an der Universität Basel, hat mit seinem Buch über die "Verzettelung", also über das Prinzip der erst wissenschaftlichen und dann auch in der Wirtschaft gebräuchlichen Karteikartensystems die Geschichte eines, wenn nicht des universellen Wissensinstruments verfasst, das bis zum Einzug der Computer praktisch über all dort Verwendung fand, wo es um den systematischen Zugang zu einem großen Wissensfundus ging und vielleicht sogar den Beginn der Humanwissenschaft an sich eingeleitet hat. (13)
Den Beginn der Verzettelung des Wissens sieht Krajewski durch die Bücherflut des 16. Jahrhundert ausgelöst und durch die erste inhaltliche Bibliographie mit dem Namen "Bibliotheca Universalis" (1545-1548) des Polyhistors Konrad Gessner eingelöst. (16 ff). Diese Bibliographie ermöglichte ein nach 21 Wissensgebieten unterteilten Zugang zu 10.000 Büchern. Neben dieser Bibliographie gibt Gessner jedoch auch eine praktische Anleitung, wie aus der Bibliographie oder eigenen Exzerpen ein variabel gestaltetes Register bzw. ein "hybrider Zettelkasten in Buchform" (21) entstehen kann und zwar dadurch, dass jeder Titel bzw. Exzerpt einzeln zerschnitten und dann mit Leisten neu in einem Buch angeordnet wird. Krajewski betrachtet dieses Verfahren als die Urszene des Zettelkasten. Aus diesem Gedanken der Anordnung von Exzerpten in Buchform entsteht in der Folge, auch durch den Setzkasten des Gutenbergschen Druckverfahrens (22) angeregt, die Idee, die Exzerpte gleich in eigens dafür entworfenen Schränken anzuordnen. (27) Etwa für Leibniz ist diese Arbeitsweise neben seinem Klassifikationssystem (43) in Form eines "Excerpierschrankes" seit 1676 überliefert (28ff).
Die Ehre des Ersten Zettelkatalogs in der Geschichte der Bibliotheken gebührt dem Josephinischen Katalog, der ab 1780 unter der Leitung von Gottfried van Swieten an der Hofbibliothek in Wien entstand und bis 1781 auf 300.000 Zetteln 23.434 Bücher registrierte (55). Der Erfolg des Katalogs wurde vor allem durch drei Merkmale erreicht: 1.) durch eine schriftliche Instruktion, wie die Karteikarten zu erstellen sind, 2.) durch einen arbeitsteiligen Prozess bei der Erstellung und Integration von Büchern und 3.) durch die Dauerhaftigkeit der Katalognutzung (52). Notwendig geworden war diese Professionalisierung der Katalogisierung u.a. auch durch den Verbot des Jesuitenordens in Österreich und der Einziehung seiner Bücher (48). Interessant erscheint hier vor allem auch die Einordnung dieser Innovation in das gesamte Zeitalter der Aufklärung in Wien unter Maria Theresia, das auch in anderen Bereichen zu enormer Rationalisierung führte. So beschreibt Krajewski die ab 1770 eingeführte Pflicht zur Anbringung von Hausnummern und eindeutigen Straßennamen, um möglichst vollständig Soldaten in die Rekrutierungslisten einschreiben zu können (37 ff). Andererseits bleiben auch lange noch andere Zugänge zu den Beständen der Bibliothek - vor allem in Deutschland - möglich. Überliefert sind etwa Lessings Wanderungen durch die Wolfenbüttler Büchersammlungen (40), aber auch das einstweilige Zurückdrängen der Verzettelung durch den Geniekult ab 1800, weil das Werk des Genies keine Quellen benötigt (79). Auch bedingt durch die Konfiszierungen der kirchlichen Buchbestände und der Rationalisierungen der französischen Revolution, in deren Zuge auch ab 1790 der Versuch einer Nationalbibliographie aller in Frankreich vorhanden Bücher unternommen wurde (60 ff), beginnt sich der Zettelkatalog als primärer Zugang zu den Beständen zu etablieren.
Eine weitere Professionalisierung des Zettelprinzips erfolgte nach diesem Siegeszug des Zettelkastens in Europa durch die erneute Erfindung des Zettelkatalogs in Amerikanischen Bibliotheken (Harvard) und durch die Ausweitung des Prinzip des Zettelkasten in die Wirtschaft, vor allem angetrieben durch den Bibliothekar Melvil Dewey, der auch für die Dewey-Dezimalklassifikation bekannt ist, nach der viele vor allem amerikanische Bibliotheken organisiert sind. Dewey schafft es durch die Gründung des Library Bureau (108 ff) Bibliotheksbedarf, also vor allem Karteikarten auch in die Wirtschaft (darunter Banken und Versicherungen, S. 116) zu verkaufen, die schnell den enormen Nutzen vor allem auch bei der Konten- bzw. Buchführung erkennen. Durch die Einführung der Karteikarten ist die Buchhaltung um 50% effizienter. (119)
Krajewski schließt seine Betrachtungen zur Geschichte der Verzettelung mit dem Gedanken, dass das Prinzip der Verzettelung schließlich so wirksam ist, dass etwa die Bibliotheksneubauten der Staatsbibliothek 1920 etwa in Berlin selbst nach dem Prinzip des Zettelkastens erfolgt, die Bibliothek dadurch quasi - in Anlehnung an Heidegger - zum "bibliothekarischen Groß-Gestell" geworden sei (168), auch wenn heute die Zettelkataloge selbst unsichtbar in die Computer entschwunden sind.
Bewertung: Krajewskis Buch über die Verzettelung bzw. Katalogisierung der Wissens aus dem Geist der Bibliotheken ist ein Lehrbeispiel für die Rationalisierung und die dadurch durchaus entstehende Dialektik der Aufklärung. So spannend diese Geschichte ist und in dem Buch beschrieben ist, so spannend wäre allerdings auch ein 2. Band, der auf eben diese Rationalisierung, die unsere moderne Welt durchzieht, weiter eingeht. Die elektronische Verzettelung aller Subjekte und Objekte der realen Welt ist rasant voran geschritten und erzeugt auf der einen Seite eine unbestreitbare Rationalisierung und führt zu einem möglichen Allkauf (Amazon), Allmensch (Facebook) und Allwissen (Google, Wikipedia) auf der anderen Seite kann genau dies jedoch zur größten Unfreiheit führen, die nur denkbar erscheint (NSA, BND).